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Wie ich lernte, das Bordrestaurant (und -bistro) zu lieben

[3,2 Min Lebenszeit] Eins vorab: Dieser Text dient nicht der selbstdarstellerischen Inszenierung als ständig am Headset hängender Business-Fuzzi, dessen Terminkalender stets bis zum Rand gefüllt ist, der einfach keine Zeit mehr für Hobbies findet, weil er „seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hat“ und der keine Zeit für Familie hat – braucht so ein einsamer Wolf ja ohnehin nicht.

Dieser Text dient einzig und allein einem Zweck – dem Ausdruck einer tiefempfundenen Zuneigung gegenüber dem Bordrestaurant oder -bistro in den Zügen der Deutschen Bahn und allem was es zu dem macht, das es ist: seine Gäste, das Servicepersonal, die wohlig-sympathische Spießigkeit, die vielen kleinen und größeren Absurditäten, die man dort erlebt. Und nicht zuletzt der (fast) immer freie Platz in sonst gut gefüllten Zügen. Dieser Text ist übrigens kein Sponsored Post.

 

Routinierte Bordrestaurant-Gäste stehen strategisch

Doch zurück zum Anfang: Seit einiger Zeit reise ich vermehrt durch die Bundesrepublik. Nicht so viel wie der Business-Fuzzi vom Anfang, aber schon mehr als früher. Das rührt zum einen daher, dass wir FUTUR III gegründet haben und unsere Kunden selten in Hannover sitzen, zum anderen wegen der Liebe und drittens, weil Zug fahren umweltfreundlicher ist, als das Auto zu wählen und man wesentlich entspannter und eigentlich fast immer pünktlich ankommt.

Da ich aber auch den Nervenkitzel liebe, buche ich eigentlich nie eine Sitzplatzreservierung. So kommt es oft vor, dass ich mich – Vielfahrer-typisch – schon auf dem Bahnsteig in Höhe des einrollenden Speisewagens platziere, um direkt nach dem Öffnen der Türen und Verlassen der anderen Fahrgäste mit angemessenem Nachdruck das Bordrestaurant zu erreichen, um dort den schönsten aller Plätze, den Einzelplatz mit Blick in die Küche, einzunehmen.

 

Platzwahl: Eine Entscheidung, die alles über dich und deine Motive verrät

Kommunikativer wäre es sicher, am Vierer Platz zu nehmen, somit den direkten Kontakt zu anderen Fahrgästen zu suchen und zugleich die sichere Rolle des Beobachters zu verlassen. Aber ich bin erst seit kurzem Connaisseur dieser besonderen Welt und brauche diese Sicherheit, um mich nach und nach zu akklimatisieren.

Und ich liebe jede noch so kleine Beobachtung, die ich dabei mache: den Moment der Veränderung des Servicepersonals bei Betreten oder Verlassen ihrer Komfortzone Küche, wenn Mimik und Bewegungsablauf von Status „Gästekontakt“ zu „Kollegen unter sich“ transformieren; die Gespräche der Pantoffelhelden in C&A-Anzügen und ausgetragenen Lederschuhen, in denen man viel stehen kann, wenn man muss, und die betont dominant Anweisungen an Untergebene und/oder Familienmitglieder in ihre Bluetooth-Dongles (niemals Headsets) bellen; die abschätzenden Blicke der Maßanzugträger, die sich beim Telefonieren mit ihrem immer noch brandneu wirkenden iPhone 5s die Hand vor den Mund halten und die erstaunlicherweise keine Bahncard 100 erster Klasse besitzen – vielleicht weil sie den bewussten Kontakt zum Fußvolk im Speisewagen als letzten Anker zur Normalität verstehen; der kleine, sympathisch-tölpelhafte Flirt zwischen ihr, Angestellte bei einem Juwelier in Berlin, und ihm, Vertriebler eines mittelständischen Industriebedarf-Anbieters aus der Nähe von Stuttgart, die beide verschiedene Eheringe an den Händen tragen.

Im Bordbistro sind es dann eher Fußballfans mittleren Alters, meist mit ihren minderjährigen Söhnen im Schlepptau; klassische Sektmuttis, die alle zwischenmenschlichen Attraktionen der heimischen Nachbarschaft detailreich erörtern; rüstige Pärchen um die 60, auf dem Weg ihre längst flügge gewordenen Kinder in Berlin oder Hamburg zu besuchen oder natürlich die bereits komplett ins Friedrichshain-Outfit geworfenen Mittzwanziger im Hipster-Express (IC Hannover-Berlin, Freitagabend, Abfahrt 19:04 Uhr) nach vorheriger Anreise via S-Bahn aus dem hannoverschen Umland, die am Wochenende ihre Instastory glühen lassen werden.

 

Sozialsystem Bordrestaurant: Unerforschte Weiten und Abenteuer

Was ich als passionierter Kaffeetrinker auch liebe, ist die heiße Fairtrade-Schokolade und die Laugenstange mit Käse und Krautsalat („Gerne warmmachen, danke!“) an kalten Tagen oder an wärmeren Tagen ein kaltes Weißbier am Freitag nach einer langen Woche, während draußen bei der Überquerung der Elbe oder zwischen den Tälern und Flüsschen der Rhön die Sonne untergeht. Eben die kleinen Freuden, die eine Fahrt im besonderen sozialen Gefüge „Bordrestaurant“ so besonders machen.

Apropos kleine Freuden in sozialen Gefügen: Ich bin fest davon überzeugt, dass kein Ort auf dieser Welt so schnell dafür sorgt, dass Menschen Routinen entwickeln, wie es im Bordrestaurant der Fall ist. Alle haben ihren Lieblingsplatz. Alle ihre Standard-Bestellung – abgestimmt auf die jeweilige Situation. Alle haben ihre Gründe. Ihr Woher, ihr Wohin, aber eben auch das Warum. Mal einfach weil die erste Klasse voll war; mal weil nach 30 Jahren Ehe der Reiz zunehmend Gewohnheit weicht und man sich nach einem kleinen, wenn auch nur imaginären, Ausflug in die Freiheit sehnt; mal, weil man sonst nur jeden verdammten Tag Anweisungen befolgen muss, sich auf öden Messen die Beine in den Bauch steht und sich überhaupt das alles eigentlich ganz anders vorgestellt hatte.

Mal aber auch einfach, weil man den Service so nett findet, das Beobachten liebt und nur zügig, sicher und entspannt von A nach B kommen möchte. Bordrestaurant, das ist für dich.

Datum: 24.04.2019
Autor: Jochen Heimann, Mitgründer und Geschäftsführer von FUTUR III